MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System

Atlas Musculatur: Einleitung

Erhard Thiele     01 Atlas Musculatur Gliederung       MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht     

Theorie der Myofunktionellen Therapie

 

1 Anatomie und Physiologie des erweiterten orofacialen Systems

– anatomische und physiologische Grundlagen der Myofunktionellen Therapie

 Myofunktionelle Störungen, wie hier im Orofacialbereich, zu diagnostizieren erfordert, dass man in der Lage ist, "unter die Oberfläche" des Geschehens zu blicken, im übertragenen Sinne und wortwörtlich - sich die Muskulatur vorstellen zu können, die hinter der Störung agiert. Um uns den Überblick über die Anatomie unseres Arbeitsgebietes zu verschaffen, werden wir uns also das gebräuchliche Schema für die Muskulatur zu Nutze machen.

 Bei dem geforderten Verständnis für der Funktion der orofacialen Muskulatur auf unseren speziellen Fachgebieten zeigt sich wieder die negative Wirkung einer zergliedernden Schematisierung, die aber doch für dies Verständnis methodologisch notwendig ist. Begnügt man sich mit der üblichen Unterteilung der äusseren, der Gesichtsmuskulatur, so entsteht leicht das Bild mechanistischer Einzelfunktionen von etwa dreizehn Muskelzügen, die hauptsächlich um den Mundspalt angeordnet sind.

Aus dem heutigen Wissen über die Anatomie der Orofacialmuskulatur lassen sich ausser Erkenntnissen für die Traumatologie, Rehabilitation und Kiefer- und Gesichtschirurgie auch für unser myofunktionelles Training massgebliche Schlüsse ziehen. Allerdings sind die Konsequenzen für unseren Bereich etwas speziellerer Natur.

Zunächst finden wir Unterschiede in der anatomischen Beschreibung des Muskelverlaufs , was die Schwierigkeit erahnen lässt, bestimmte Muskeln diagnostisch einzugrenzen.  So spalten sich Muskeln auf in Faserzüge, die teils eigenständig inserieren, teils in angrenzende Muskeln einstrahlen, mit ihnen weiterlaufen oder sie überkreuzen. So ist weder aus der denkbaren einzelnen Innervation eines Muskels der Schluss auf eine eindeutige Bewegung möglich noch eindeutig aus einer Bewegung der Schluss auf einen verantwortlichen Einzelmuskel.

Erschwert wird eine Zuordnung noch durch die Nervenversorgung – drei verschiedene Systeme und Synapsenbildung – und darüber hinaus durch häufig anzutreffende sogenannte Varianten von Muskelbau und Verlauf.

Primär erklären wir uns dies aus der genetischen Entwicklung. Der embryonale, flächige Hautmuskel differenziert sich in einzelne Muskelzüge. Diese Differenzierung ist individuell durchaus unterschiedlich.

Ebenfalls genetisch bedingt ist die Programmierung der Muskelsteuerung. Das Minenspiel beispielsweise ist personencharakteristisch vererbt; die eingeübten Bewegungsmuster fordern von der Muskulatur nicht alles, wozu diese fähig ist. Der Patient weiss oft nicht mit der Muskulatur umzugehen, die Bewegungsmuster werden unbewusst durchlaufen. Erst durch unsere Lernmethoden erfährt der Patient, zu welchen Bewegungen seine Muskulatur in der Lage ist.

Diese Feststellung trifft nicht nur zu für die äussere, die eigentliche orofaciale Muskulatur zu, sondern auch beispielsweise für jene Muskeln, die der Zunge ihre Beweglichkeit verleihen. Sind im Fall der äusseren Muskulatur noch die Bewegungsmöglichkeiten klar umrissen durch einen nachvollziehbaren Muskelursprung und -ansatz (mit Ausnahmen wie dem M. buccinator, der über eine Raphe in das Tätigkeitsfeld des M. constrictor pharyngis sup. hineinverbunden ist), so fällt es zwar schon bei der eigentlichen Zunge selbst, mehr noch bei der Mundbodenmuskulatur und besonders bei der Zungenbeinmuskulatur schwer, Aktivitäten auf ein überschaubares Feld abzugrenzen. Bei Mundboden- und Zungenbeinmuskulatur, die eine wichtige Rolle für die Beweglichkeit und Funktion der Zunge spielen , geraten wir zusehends aus unserem uns abgesteckten Gebiet heraus in die Schlund-, Hals-, Nacken- und Schultergürtelmuskulatur. (Beobachten Sie jemanden, der versucht hat, lange die Luft anzuhalten und nun "nach Luft schnappt". Man sieht die Muskelanspannung vom M. nasalis über Mund, Kinn, Platysma bis hinein in den M. pectoralis.) Nicht zuletzt aus diesem Grunde haben Arbeitsgruppen, die sich mit diesen speziellen Störungen befassen die Bezeichnung des Gebietes abgeändert und erweitert in "craniofaciale und schliesslich "craniocervicale" Störungen. Bedenken wir schliess1ich noch, dass wir keine einzelnen Muskelaktionen verfolgen, sondern Reflexabläufe, die verschiedene, in verschiedenen Gebieten liegende, unterschiedlich innervierte Muskelgruppen durchlaufen, so könnte man versucht sein, unser Unterfangen aufzugeben, eine verständliche Übersicht in die Wirkweise der orofacialen Muskulatur zu bringen.

Sind wir uns dieser mehr generellen Fakten bewusst, so erkennen wir schon, dass wir nicht allein aus der Anatomie des Einzelmuskels unser Therapiekonzept werden herleiten können. Wollen wir auf Funktionskomplexe der Muskulatur  einwirken, so empfiehlt es sich auch, in muskulären Funktionskomplexen zu denken.  (In diesem Zusammenhang sei an die Namensgebung „Muskelfunktionstherapie“ erinnert, wobei sich das Funktionelle sowohl auf die Art der Störung bezieht, als auch auf die Methodik der Therapie und darüber hinaus eine Schematisierung beeinflussen sollte, wie dies im Komplex der "Diagnostischen Übungen" erfolgt ist.)

 Es soll hier auch die Frage angeschnitten werden, ob  es zu lange oder zu kurze Lippen allgemein gibt, oder ob nicht gar dieses Erscheinungsbild in vielen Fällen das Resultat eines langzeitig bestehenden Dystonus bei bestimmter synergistischer Konstellation in der Muskulatur ist. Oder, ob die "zu grosse" Zunge nicht schlicht eine übertrainierte Muskelmasse verkörpert.

Speziell bei der Muskulatur um den Mundspalt herum wird es sehr komplex. Grob eingeteilt finden wir den Ringmuskel ( der eher einen Ring aus Muskulatur und sehnigen Schaltstücken bildet, womit sich zwei obere Viertel und eine untere Hälfte ergäben) ( und der sich, wie beschrieben, darüber hinaus funktionell gliedern lässt in einen inneren, mittleren und äusseren Ring – siehe dazu die Übungskette ,O’, KIRSCHE, RÜSSEL - ). Recht komplex wird das Verständnis der Funktion dieses Muskelareals, wenn man versucht, der Ultrafeinmotorik des Mundspaltes auf den Grund zu gehen. Je feiner die Motorik geregelt werden soll, desto differenzierter ist das Synergist-/Antagonist-Zusammenspiel, dass wir in der gesamten Orofacialmuskulatur antreffen. Nehmen wir uns den Mundspalt als Beispiel, so erkennen wir zunächst anatomisch ineinander verflochtene Agonisten, aber ebenfalls die klare Trennung von Zug und Gegenzug: Der zirkuläre Ringmuskel schnürt den Mundspalt zusammen, zentripetal; die radiären Faserzüge ziehen ihn auseinander, zentrifugal. Letzteres geschieht jedoch eben ultrafeinmotorisch, da hier Faserzüge teils aufeinandergelagert, teils verwoben sind, die an der gleichen Stelle liegend gegensinnig arbeiten (Musculus depressor labii inferioris und Musculus Mentalis )

Diese Fakten lassen bisweilen Widersprüche in der Beschreibung von Muskelzügen und deren Funktion vermuten, bei genauerem Hinsehen jedoch stellt man fest, das nur die Muskeleinteilung oder der Funktionskomplex verschieden aufgefasst wird. Generell versucht der Verfasser in der vorliegenden Beschreibung seinem Leser ein Bild von der funktionellen Strukturierung der Muskulatur zu vermitteln.

Aber gerade dieser letzte Punkt soll uns schliesslich bei unseren Betrachtungen weiterhelfen. Eine sinnvolle Nutzanwendung aus den schematisch eingeteilten Einzelmuskeln kann nur hervorgehen aus der Beobachtung von Reflexabläufen. Die Nutzanwendung "Therapie" soll schliesslich auf augenscheinlich gestörte Reflexabläufe einwirken .

Diese Überlegung müssen wir im Sinn behalten, wenn wir versuchen, die Wirkung der Aktion eines Einzelmuskels zu definieren, und dabei nicht die Sicht auf den Gesamtorganismus zu vergessen. Komplikationen sind noch insofern zu erwarten, als die Funktion einiger Muskeln über die biomechanische Bewegung von Körperteilen hinausgeht. Einige Muskeln nehmen verdeckte Aufgaben wahr, wie beispielsweise der Musculus. levator veli palatini, der für das Offenhalten der Tuba Eustachica  mitverantwortlich ist oder auch der m. omohyoideus, er  strahlt mit einer Zwischensehne in die Carotisscheide ein und regelt so praktisch die Blutversorgung zum Kopf.

Fassen wir also zusammen:

Aus der Sicht auf den ganzen Menschen und für das Verständnis von Reflexabläufen und Synergismen müssen wir  nicht nur unser eigentliches Gebiet kennen und verstehen, sondern noch darüber hinausblicken.  Daher muss zum besseren Verständnis eine übersichtliche Unterteilung erfolgen. Bei der Abgrenzung unserer Areale werden wir uns der bekannten  Nomenklatur bedienen, die wir abschnittsweise abhandeln.

Um die Lage des Muskels zu veranschaulichen, soll jeweils eine Skizze zugeordnet werden. Innerhalb der Hauptareale wird der Einzelmuskel auf der einen Gesichtshälfte dargestellt, auf der anderen zeigt ein Pfeil die Zugrichtung des Muskels bei Kontraktion. Nach diesem atlasartigen Teil eines jeden Kapitels folgt ein beschreibender Teil, der sich im Wesentlichen für jedes Areal gliedert in:

Diskussion der Physiologie der Muskulatur Muskuläre Besonderheiten Muskuläre Fehlaktionen