MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System

Atlas Musculatur: Fehlfunktion,II,B,1,2,3

Erhard Thiele   21 Atlas Musculatur Gliederung       MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht     

1.2.3

 Abhandlung muskulärer Fehlaktionen der Muskeln des Areals II

        Zungenmuskulatur –

Es sind also nachhaltige Formveränderungen zu erwarten bei pathologischen Störungen der Funktion durch eine veränderte Anatomie oder Steuerung, auch bei Dys- oder Fehlfunktionen, die nicht im Bereich der normalen Aufgaben der Muskeln und Hartgewebe liegen ( hierzu müssen auch die funktionellen Belastungen gerechnet werden, die dem Organismus abgefordert werden, wenn ein Fehler in einem neuromuskulären System ihn dazu zwingt, zur Erhaltung der Vitalfunktion ein Notprogramm zu fahren), und bei Parafunktionen, die auf An- (Un-)gewohnheiten beruhen und als lebenserhaltende Funktion nicht notwendig und/oder störend sind. Zu solchen Anlässen herrscht über lange Zeit, oft kontinuierlich über Stunden, ein muskuläres Druck-Ungleichgewicht zwischen innen und aussen. Zungentief- und -rücklage, Zungenbeissen, Zungenpressen, auch Zwischenpressen in Zahnzwischenräume wären die Aktionen, die von innen zu einem Ungleichgewicht führen. Diesen stünden dann von aussen ähnliche wie Wangen- und Lippenbeissen oder -pressen, Bekauen von Gegenständen und Beknabbern entgegen. Hinzu kommt dann das komplexe System der Balance des Luft-Aussen/-Innnedruckes, der auch über Muskelaktionen gesteuert wird.

Die Fehlbelastung über lange Zeiträume führt zur Verformung der Hart- und Weichgewebe, diese sodann über die veränderte, pathologische Anatomie zu muskulären Dauerfehlbelastungen, was zu einem Fehlerkreislauf gerät. Hierzu gehört auch die, zu grosse Zunge’. So schreibt Rauber-Kopsch: ”Bei einseitiger Hypoglossus-Lähmung zeigt die herausgestreckte Zungenspitze zur Seite der Lähmung, nach der sie durch den kontrahierten M. genioglossus der gesunden Seite abgelenkt wird. Bei länger bestehender Hypoglossuslähmung entsteht eine sehr weitgehend halbseitige Zungenatrophie” [126, S. 273].

Agierender Muskel

Aussenmuskeln

negative Auswirkung auf den Zungenkörper

 

 

I I/A. 1. M. styloglossus

 

Hohe Zungenrücklage mit Tendenz zur Breitstellung, Interokklusallagerung, Lateral- und Gaumenpressen, uni-, bilateral

          2. M. genioglossus Vorwärtspressen des Zungenmittelteiles, Tieflagern der Spitze, frontales Pressen
          3. M. hyoglossus

Tieflagerung des Zungenkörpers, tiefes, seitliches Zungenpressen lateral

          Binnenmuskeln

 
II/B.   1. M. longitudinalis

Kurzer, dicker, breiter Klumpen

          2. M. transversus

Frontales Pressen und Zwischenlagern

         3. M. verticalis

Laterales und Pressen Zwischenlagern

   

Die Muskulatur schwindet bei Unterfunktion. (Wir wissen, dass die Muskelfasern auch bei ständiger Überreizung einer Umwandlung in Bindegewebe unterliegen, der Myogelose). Ein Bild, wie es zu der obigen Beschreibung passt, sehen wir auch bei zu kurzem Zungenband. Die Zungenspitze kann nicht in ihre Ruhe-/Funktionsstellung an der Inzisalpapille gelangen, die entsprechende Muskulatur wird ,abgeschaltet’, der Zungenkörper schmilzt ein. Man sieht diese Zungen dann mit einer auffallend schmächtigen Spitze.

Übertrainierte Muskulatur erscheint knollig (Bodybuilding). Zu grosse Zungen sind häufig nur übertrainiert. Merkmale sind Oberflächenveränderungen, die von einer Oberflächenprägung wie bei der ,Briefmarkenzunge’ und ähnlichen Erscheinungen bis zu auffälligen Lazerationen reichen (Lingua areata). Wegen der besprochenen multiplen Beweglichkeit und Verformbarkeit des Zungenkörpers können die Veränderungen punktuell sein, regionär oder flächig auftreten. Analog gehören dazu natürlich auch die durch eben diesen überlastenden Druck hervorgerufenen Verformungen an der angrenzenden Hartsubstanz. Die Zunge kann als ein Block pressen und die Kieferbögen im Zentimeterbereich erweitern, sie kann mit feiner Ausstülpungen (man könnte diese Eigenart der Zunge in einen bildhaften Vergleich setzen mit der Ausbildung von Scheinfüsschen bei der Amöbe) einen Einzelzahn verdrehen – und alle denkbaren Stadien zwischen diesen beiden Extremen. Vorweg sei angemerkt: Viele Zungenfehlfunktionen sind nicht möglich ohne das feste Widerlager der Mundbodenmuskulatur (s. nächstes Kapitel, Areal III). Ähnlich wie bei der orofazialen Muskulatur ist es auch hier zweckmässig, zu besprechen, welche Fehlertendenz eine jede Muskelgruppe in eine Fehlfunktion einbringen kann, da ein vorliegender Fehler wie eine Eufunktion stets aus der Kombination verschiedener Synergismen und Antagonismen entsteht. Wir haben nun einige Grundtendenzen von Einzelmuskeln und Synergismen zu Fehlfunktionen dargestellt. Frei kombinierbar sind in der Hauptsache drei Aussenmuskeln, drei Binnenmuskeln, solches uni- oder bilateral, und jede resultierende Muskelfehlaktion bei gesamter oder abgestufter Muskeltätigkeit – womit das Problem aufhört, mathematisch kalkulierbar zu sein. Vor allen Dingen, wenn, wie schon angedeutet, zusätzlich die Mundbodenmuskulatur im weitesten Sinne und der Luftdruck mit hineinspielt.