MYONET - Atlas Musculatur Orofacial System

Atlas Musculatur: Besonderheiten II,B,1,2,3

Erhard Thiele     20 Atlas Musculatur Gliederung       MYONET.Gesamtprogramm inhaltsübersicht     

1.2.2 Diskussion der Physiologie und muskulärer Besonderheiten der Muskeln des Areals II

        Zungenmuskulatur –

Die Muskulatur der Zunge lässt sich nach Ansatz und Ursprung in zwei Gruppen unterteilen.

Die Aussenmuskulatur verbindet den Zungenkörper mit benachbarten Knochen und verleiht ihm so die Beweglichkeit im Mundraum.

Die Binnenmuskulatur hat beide Fixpunkte innerhalb der Muskelmasse und verhilft der Zunge so zu ihrer mannigfaltigen Verformbarkeit. Durch die systematische Anordnung der Binnenmuskelfasern mit ihren sehnigen Enden erhält der Zungenkörper eine Art bindegewebiges Innenskelett. Es wird nach Bau und Funktion auch mit einem Scherengitter (J. W. Rohen, [136]) verglichen. Wie die Abbildung 24 zeigt, setzt es sich zusammen aus zwei aufeinander senkrecht stehenden Ebenen. Die waagerechte Ebene bildet die Aponeurose, die unter der Zungenoberfläche gelegen ist. Auf ihrer Medianlinie nach unten steht senkrecht das Blatt des Zungenseptums.

Bleiben wir in der Abhandlung der Muskelphysiologie nun sogleich bei der Binnenmuskulatur. Wie die Abbildung 23 zeigt, verlaufen die Muskelfasern vornehmlich in drei lateralsymmetrischen Blöcken. Der grosse, zentrale Block wird gebildet aus den vertikalen und transversalen Fasern, die beiden mehr lateral gelegenen Blöcke, ein hoher und ein tiefer, bestehen hauptsächlich aus Longitudinalfasern. So sind im Zungenkörper die Muskelfasern streng in den drei senkrecht zueinander orientierten Raumebenen angeordnet.

II/B1, die Longitudinalfasern, vermögen die Zunge zu verkürzen (s. hierzu auch das Schema ,Synergismen’ unten, das Aktion und Wirkung gegenüberstellt).

II/B2, die Transversalfasern, die den Zungenkörper lang und schmal werden lassen und im Hauptblock des Zungenkörpers räumlich zu einem Netz verwoben sind mit

II/ B3, den Vertikalfasern, die die Zunge ab flachen.

Die Abbildung 23 der Binnenmuskulatur trennt schematisierend in wohlabgegrenzte Blöcke, was im Organismus mehr ein ineinander verwobenes Raumgitter darstellt (Scherengitter), welches sich durch die Aktion der Fasern dreidimensional verformen lässt.

Zungenbasisfunktionen aus Binnenmuskelsynergismus

Synergismen

 

Kontrahiert:

Musculi -

 

Transversales&Verticales

Transversales&Longitudinales

Ver ticales&Longitudinales

 

Gehnt:

Musculi -

 

Longitudinales

Verticales

Transversae

Effekt =

Zungenkörperform:

 

Zunge lang und schmal

Zunge kurz und hoch

Zunge kurz, flach, breit

Die Muskelaktionen können in toto oder in Teilen der Zunge erfolgen, kombiniert in allen Abstufungen von Synergismen und Antagonismen, symmetrisch und asymmetrisch, uni- oder bilateral. Hieraus ergibt sich eine überaus vielfältige Verformbarkeit der Zunge. Ihre grosse Beweglichkeit im Mundraum gewinnt die Zunge durch die Trampolinwirkung des Mundbodens und besonders durch die auf der Abbildung 22 dargestellten drei Muskelzüge der Aussenmuskulatur der Zunge, die, am Knochen fixiert, in den Zungenkörper hineinlaufen und ihn wie ein am Ufer angebundenes Schiff hin und her ziehen können. Sie entspringen am Knochen und gehen ein in die Züge des Raumgitters der Binnenmuskulatur.

II/A, 1.   M. styloglossus
entspringt an dem in der Ohrgegend gelegenen Knochenfortsatz Processus styloideus des Oberkiefers (Griffelfortsatz) und strahlt am Zungengrund von hinten oben in die Longitudinalzüge der Binnenmuskulatur ein, in denen er bis zur Zungenspitze kontinuiert. Teile zweigen zuvor in die Transversalzüge ab. So kann die Zunge lateral gelenkt oder gebogen werden. Der generelle Zug geht nach hinten oben, wodurch das hintere Zungendrittel vornehmlich seine Gaumenwärtsbewegung beim Schlucken und bei der Bildung bestimmter Laute [g] und [k] erfährt.

 

II/A, 1a.  M. palatoglossus
entspringt an der Aponeurose des palatum molle (weicher Gaumen)  mit kollateralem Kontakt praktisch zu einem Muskelring durch seinen Ansatz im Zungenrand bei Einstrahlen in die internen Transversalzüge. Kontrahiert den vorderen Gaumenbogen.

 

II/A, 2.  M. genioglossus
hat seine Knochenfixierung an der inneren Kinnspitze (Spina mentalis) und geht bogenförmig aufgefächert auf ganzer Länge des Zungenkörpers in diesen ein – vorn mehr vertikal, hinten mehr longitudinal. So kann er zum Styloglossus (A1) antagonistisch vorwiegend vor-, aber auch abwärts wirken. Die Abwärtskomponente ist betont vertreten beim folgenden Muskel.

 

II/A, 3. M. hyoglossus
setzt beim Zungenbein an und geht in die transversalen und longitudinalen Züge ein. Er hält die Zunge abwärts-rückwärts. Durch die Vergesellschaftung mit den Binnenmuskelzügen bewirken die Aussenzüge, neben der Verlagerung des Zungenkörpers, ebenfalls eine Verformung. Hierbei wirken häufig zwei Zugrichtungen antagonistisch zur dritten; kontrahieren die beiden, so wird die dritte gedehnt. Wir können diesen (im obigen Schema zusammengefassten) Mechanismus schematisch darstellen (s.Scherengitter ). Verformung und Lageänderung sind meist fliessend von einem funktionellen Augenblickszustand zum anderen, wie bei der Aneinanderreihung von Lauten (S-Kanal), oder sie durchlaufen auch den Zungenkörper wellenförmig, wie bei der Retralwanderung der oberflächlichen Mulde im Schluckreflex ("Peristaltik"). Dies konnte B. Wein in seinem Vortrag ”Gestörte Zungenbewegungen im sonographischen Bild” anlässlich des 9. Kongresses für Myofunktionelle Therapie beispielsweise beim Trinken zur Beförderung der Flüssigkeitsportion in den Schlund dokumentieren [176].

 

II/A, 3. M. chondroglossus
entspringt am cornu minor des os hyoid steigt auf und durchdringt dabei die longitudinales und den genioglossus bis seine Fasern in die Zungensubmucosa einfächern. Daraus ergibt sich ein Abwärtszug der Zunge.

Hier sind zwei Arbeiten von B. Wein et al. hervorzuheben:

”Computer-sonographische Darstellung der Zungenmotilität mittels Pseudo-3 D-Rekonstruktion”. Die Autoren schreiben: ”Zungenbewegungen sind Ausdruck einer komplexen Zusammenarbeit verschiedener intra- und extraglossaler Muskelgruppen unterschiedlicher Hauptverlaufsrichtungen und einer differenzierten Innervation. Sie werden üblicherweise durch direkte Inspektion beobachtet. Die Bewegungsbeobachtung bezieht sich dann auf die maximale Auslenkung der Zunge sowie auf grobe Veränderungen des Bewegungsmusters. Insbesondere der Schluckakt entzieht sich jedoch der Inspektion, da er nur bei geschlossenem Mund als reflexartiges Geschehen ablaufen kann” [177, S. 95]. Ähnlich äussern sie sich in ”Ultraschalluntersuchungen von Koordinationsstörungen der Zungenbewegung beim Schlucken” [179]. 

Ebenso fliessend verläuft das Verbreitern und Schmalstellen während des Kauens, um die Nahrung zwischen die Kauflächen zu dirigieren. In der Ruhestellung soll die Zungenoberfläche leicht konvex geformt sein (Übung KATZBUCKEL), die Spitze auf die Inzisalpapille tupfen (Übung PUNKTHALTUNG) und mit den Randbereichen die Seitenzähne schwach berühren. (Es gibt die Meinung, man solle statt von einer Zungenspitze eher vom Vorderrand reden, was tatsächlich eher die Form beschreibt, aber wenig gebräuchlich ist.) Darüber hinaus wird wohl dieser Zungenruhehaltung erheblich grössere Bedeutung neben der des muskulären Innen-/Aussengleichgewichts zukommen, da meditative Vorschriften und ähnliche Ge- sundheitsregeln diese Haltung sehr präzise beschreiben und vorschreiben. So sollen Ruhe- und Funktionstonus der Zunge dem der äusseren Gesichtsmuskulatur entsprechend im Gleichgewicht abgestimmt sein (Kugelschalenbild). Zu einem grossen Teil repräsentieren die Binnenmuskulatur, aber auch synergistisch die Aussenmuskulatur und die entsprechend auf die Zungenlage einwirkende Mundbodenmuskulatur die zentrifugale Kraft im Inneren der Kugel, der die Hülle der äusseren Orofazialmuskeln mit ihrer zentripetalgerichteten Kraft gegenübersteht. Unsere hartgewebige Kapsel zwischen elastischer Innenkugel und Aussenhülle – die Kieferknochen mit den Zahnbögen –, die so leicht durch ein Innen-aussen- Ungleichgewicht zu verformen ist, wird sehr wahrscheinlich nicht durch ,normale’ Funktionen verformt, selbst wenn diese nicht eufunktionell und im muskulären Funktionsgleichgewicht ablaufen. Funktionen üben einen durch die fliessenden Druckänderungen bedingten sehr kurzzeitigen Einfluss aus. Der Druckeinfluss muss histologisch gesehen, so anhaltend sein, dass er ein Aktivieren von Knochenabbau- und -aufbauzellen (Blasten und Clasten) zur Folge hat, durch die die Formveränderung zustande kommt.

In diesem sehr präzise abgestimmten synergistischen und antagonistischen Funktionsablauf von Zungen-innen, -aussen- und Mundboden-muskulatur gegenüber der äusseren „Gpürtel“-Muskulatur erkennen wir ein klassisches Beispiel des Prinzips einer im Biofeedback geregelten funktionellen sensomotorischen Schleife, wie sie im gesamten Organismus die Physiologie bestimmen. Diese Feedbackkreise vermögen in Sekundenbruchteilen aber auch über lange Zeiträume von Stunden hinweg das physiologische Gleichgewicht zur Etablierung der Eufunktion und Erhaltung der Form der Stützgewebe  neuromotorisch zu gewährleisten, respektive, bei gestörtem neuromotorischem Tonus den Rahmen zu sprengen und Funktion und Struktur zusammenbrechen zu lassen.